Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau: Vor 75 Jahren befreiten Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager. Von Februar 1943 bis August 1944 wurden im Abschnitt B II e tausende Menschen im sogenannte “Zigeunerlager” gequält und getötet. (Foto: dpa) Sie wurden erschossen, zu Tode gequält oder vergast. Historikerin Karola Fings über den NS-Völkermord an Sinti und Roma und fortlebenden Rassismus. Vor 75 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Zu den Menschheitsverbrechen der NS-Zeit gehört auch der Völkermord an den Sinti und Roma. Auch sie wurden ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Die Historikerin Karola Fings forscht zur Geschichte der heute größten ethnischen Minderheit Europas. Im Interview spricht sie über die Gräuel des sogenannten “Zigeunerlagers” von Auschwitz, über die Gründe für die späte Anerkennung des Völkermords und den bis heute tief in der Gesellschaft verwurzelten Rassismus. (…) Insgesamt starben während des Nationalsozialismus und unter deutscher Besatzung schätzungsweise circa 200 000 Sinti und Roma. Die Dunkelziffer ist aber hoch. Seit 1945 kursiert auch eine Zahl von 500 000 Opfern. Sie ist jedoch empirisch nicht belegt. Es ist aber auch ein sehr schwieriges Thema. Die Städte und Länder, aus denen die Menschen deportiert wurden, hat es nach 1945 nicht interessiert, Nachforschungen anzustellen. Die Mehrheit hat die Ermordung der Sinti und Roma nicht als schwerwiegendes Verbrechen wahrgenommen. Für die heutige Forschung ist es ein Problem, dass nicht genau bekannt ist, wie viele Roma im jeweiligen Land zur Zeit des Überfalls der deutschen Wehrmacht konkret gelebt haben. Zudem sind die Mordaktionen in den besetzten Ländern – vor allem in Osteuropa – anders abgelaufen als im Deutschen Reich: Deportationen mit Listen fanden dort nicht statt. SS- und andere Mordkommandos haben viele Opfer an Ort und Stelle erschossen. Die Dörfer wurden umstellt, die Roma selektiert und vor ausgehobenen Gruben um ihr Leben gebracht. Dabei hat niemand gezählt.
Bundeskanzler Helmut Schmidt hat den Völkermord an den Sinti und Roma erst 1982 anerkannt. Warum kam das Bewusstsein erst so spät auf? Nach 1945 haben diejenigen, die die Verfolgung während der NS-Zeit organisiert haben, weiter beruflich Karriere gemacht. Sie saßen in den Behörden und in der Kriminalpolizei. Im Grunde hat die Gesellschaft an die Verfolgung der Sinti und Roma vor 1933 angeknüpft. Diese hatte eine lange Tradition. Angehörige der Minderheit und Überlebende haben schon früh Beamte und Kripo-Mitarbeiter angezeigt, doch alle Versuche, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, wurden vereitelt. Die Untersuchungen verliefen im Sande, denn auch innerhalb der Justiz gab es eine hohe Kontinuität. Wenn Richter damals geurteilt hätten, dass es eine Rassenverfolgung gab, hätten die Täter mit einer Strafverfolgung rechnen müssen. Diese Anerkennung als Völkermord haben Polizei, Justiz und Politik sehr gekonnt vermieden. Das hat dazu geführt, dass die Gesellschaft den Rassismus gegenüber Sinti und Roma überhaupt nicht in Frage gestellt hat. Dass die Menschen, die das KZ überlebt haben, gar keine oder nur ein sehr geringe Entschädigung bekommen haben. Und dass auch die nachfolgenden Generationen von dieser Verfolgung nach wie vor sehr betroffen sind. Wie präsent ist der Antiziganismus, der Rassismus Sinti und Roma gegenüber, heute? Antiziganismus ist leider eine Form von Rassismus, die sehr präsent ist – auch in Deutschland. Es handelt sich hier um eine jahrhundertealte Vorurteilsstruktur – ähnlich dem Antisemitismus. Die Mehrheitsbevölkerung hat eine bestimmte Sicht auf Sinti und Roma und schreibt ihnen bestimmte Eigenschaften zu. Das ist das größte Hindernis dafür, dass diese Menschen ganz normal – wie jeder andere Bundesbürger auch – Zugang zur Gesellschaft und zu Arbeit, Bildung, Wohnen und Gesundheit erhalten.

via sz: NS-Verbrechen an Sinti und Roma:”Alle Versuche, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, wurden vereitelt”

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