Die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen stürzt nicht nur das Bundesland, sondern auch die Bundesparteien in eine tiefe politische Krise. Die AfD hat FDP-Mann Thomas Kemmerich für einen Tag ins Amt gebracht und wieder mal vorgeführt, wie gut sie auf die Klaviatur der Demokratie für ihre Zwecke nutzen kann. Die politische Klasse hat noch immer nicht gelernt, wie sie der AfD Einhalt gebieten kann. Christian Hirte war einer der ersten Gratulanten nach der Wahl von Thomas L. Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten. Genau eine Woche vorher hatte er während der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus im Plenarsaal gesessen und dem Satz des Bundespräsidenten Steinmeier gelauscht: “Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Vision, geradezu als die bessere Antwort auf die offenen Fragen der Zeit.” Offenbar hatte der Ostbeauftragte nicht richtig zugehört, denn er hatte mit seinem Glückwunsch genau das gerechtfertigt und die Kräfte in Deutschland legitimiert, die das wollen, was Steinmeier beklagte. Die AfD hatte die parlamentarische Demokratie nicht nur mit ihren eigenen Mitteln in Thüringen vorgeführt, sondern auch missbraucht. So hat es vor über 80 Jahren die NSDAP in der Weimarer Republik im Saal des Reichstages auch oft genug getan.
Es brauchte erst die “Anregung” der Bundeskanzlerin, dass Christian Hirte sein Fehlverhalten verstanden hat. Auch Hitler ist mit einer scheinbar bürgerlichen Koalition ins Amt gekommen. So weit wird doch der Geschichtsunterricht auch in Hirtens Schulzeit gekommen sein. Hirte ist kein großer Verlust, weil er für Ostdeutschland nicht viel bewegt hat. Eigentlich fiel er gar nicht auf. (…) Thomas Kemmerich wohnt in Weimar, wo Nationaltheater und KZ-Gedenkstätte Buchenwald die Geschichte von Demokratie und Diktatur in der deutschen Geschichte aufzeigen. Wer von dort kommt und mit Björn Höcke gemeinsame Sache macht, hat vom Grundkonsens unserer Demokratie nichts verstanden oder will ihn nicht verstehen. Gleiches gilt wohl für CDU-Landeschef Mike Mohring. Ihm hätte ich allerdings mehr Weitsicht zugetraut. Er beschwört ja auch, dass er sie gehabt habe und von der Wahl Kemmerichts abgeraten habe, sich aber in seiner Fraktion nicht habe durchsetzen können. Er hätte vor dem dritten Wahlgang aufstehen und öffentlich sagen müssen, dann macht, aber ich wähle Thomas Kemmerich nicht mit, weil ich der AfD nicht traue. Ihm wäre viel Ehre zuteil geworden, wenn er der AfD den Streich zunichte gemacht hätte. Aber auch nach der Wahl fand er nicht die Kraft, zu sagen, wir werden einen Ministerpräsidenten von AfD-Gnaden nicht unterstützen. Da war wohl auch die Aussicht auf eine Karriere als Minister nach der Niederlage bei der Landtagswahl wichtiger als der politische Sachverstand.
Allerdings liegt ein Teil der Schuld auch bei der Bundes-CDU und ihrer Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer. Nach dem Wahlergebnis im Oktober hat die Bundes-CDU von Anfang an falsch agiert. Sie hätte Mohring die Freiheit geben sollen, mit Bodo Ramelow zu verhandeln und so viel wie möglich für seine Partei herauszuholen. Gemeinsames Agieren von Ramelow und Mohring hätte den Bürgern gezeigt, uns geht es nicht um Parteiinteressen, sondern um das Land. So wie es doch gern Politiker fordern. Es gibt in Ostdeutschland eine andere politische Wahrnehmung von der Rolle der Linkspartei und besonders in Thüringen von Bodo Ramelow als im Westen. Die Gleichsetzung von AfD und Linkspartei funktioniert im Osten nicht und bei Ramelow, der selbst aus Westdeutschland stammt, schon gar nicht. Stattdessen argumentiert man in der CDU noch mit den Geschichtsbildern des Kalten Krieges, wie auch immer wieder Kramp-Karrenbauer. Und auch sie trägt eine Mitschuld am Debakel vom vergangenen Mittwoch. Sie konnte die Fraktion nicht zurückhalten, der AfD auf den Leim zu gehen.

via mdr: Ohne Weitsicht