Vor fünf Jahren wurde Ahmed I. niedergestochen. Täter soll der mutmaßliche Lübcke-Attentäter Stephan Ernst gewesen sein. Am 25. Prozesstag trat Ahmed I. in den Zeugenstand. Das Gericht bekleckert sich bei der Vernehmung nicht mit Ruhm. Am späten Abend des 6. Januar 2016 sitzt Ahmed I. auf der Fahrbahn einer Straße im Industriegebiet von Lohfelden (Kassel) und ist überzeugt, sterben zu müssen. Mitten auf seinem Rücken klafft eine drei Zentimeter breite und etwa vier Zentimeter tiefe Stichwunde. Auf dem Asphalt vermischt sich sein Blut mit dem Regenwasser. Autos fahren an ihm vorbei. “Vielleicht haben die Leute gedacht, ich bin betrunken”, sagt er. Irgendwann hält der Zeuge K. an, zieht ihn auf den Bordstein und bittet einen anderen Autofahrer, Polizei und Rettungswagen zu informieren. Ahmed I. überlebt. Doch die Schmerzen bleiben. Und ebenso die Frage, wer an jenem Januarabend versucht hat, ihn zu ermorden. Knapp fünf Jahre später sitzt Ahmed I. dem mutmaßlichen Täter von damals in Gerichtssaal 165C des Frankfurter Oberlandesgerichts gegenüber. Stephan Ernst, den die Öffentlichkeit als geständigen Mörder von Walter Lübcke kennt, ist nach Ansicht der Anwälte des Geschädigten und der Bundesanwaltschaft auch für den Anschlag auf Ahmed I. verantwortlich. Ernst bestreitet diese Tat zwar, doch einige Indizien legen das Gegenteil nahe. “Niemand hat sich für meine Sache interessiert”, sagt Ahmed I. An diesem 25. Verhandlungstag nun soll ihm endlich zugehört werden. Er tritt in den Zeugenstand. Doch am Ende wird seine Vernehmung ein Lehrstück darüber, wie ein Gericht mit dem Opfer einer Gewalttat besser nicht umgehen sollte. (…) “Wir müssen versuchen durch Vorhalte in den Erinnerungen zu graben. Wenn das nicht funktioniert, ist das so. Aber versuchen müssen wir es doch”, erklärt der spürbar genervte Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel nach einer zähen Befragung. Die Erläuterung kommt reichlich spät. Ahmed I. hat da bereits den Eindruck, dass die Vorhalte des Gerichts in Wirklichkeit Vorwürfe sind – wozu auch der permanent gereizte Tonfall des Vorsitzenden beiträgt. Frage – Übersetzung – Antwort – Übersetzung. Auf diesem Weg kommt es zwangsläufig zu Missverständnissen. Doch wo das Gericht in der Vergangenheit – etwa bei den stockenden Antworten des Hauptangeklagten Stephan Ernst während seiner Einlassung – große Geduld bewiesen hat, reagiert es an diesem Prozesstag mit Ungeduld und Unverständnis. Ahmed I. muss noch einiges mehr an diesem Donnerstag mitmachen. Als er die Langzeitfolgen seiner Verletzungen schildert, quittiert dies der Mitangeklagte Markus H. mit demselben Grinsen, das er seit Prozessbeginn eigentlich durchgängig auflegt. Bundesanwalt Dieter Kilmer ermahnt ihn dies zu unterlassen. In einer Prozesspause empört sich auch der Anwalt der Familie Lübcke, Holger Matt, über das “skandalöse” und “ungebührliche” Verhalten von Markus H, der sein Grinsen erst abstellt, als ihm auch sein eigener Anwalt, Björn Clemens, ins Gewissen redet.

via hessenschau: Lübcke-Prozess: Wie man mit einem Opfer nicht umgehen sollte