Der geständige Mörder des Kasseler CDU-Politikers Walter Lübcke ist nicht nur ein langjähriger Gewalttäter und Rechtsextremist, er hatte auch persönliche Bekanntschaften im NSU-Umfeld. Zudem gab es auffällige Verbindungen zu Personen rund um den NSU-Mord in Kassel, wie interne Dokumente zeigen. Gegen Mitternacht, am 1. Juni 2019, sackt der frühere Kasseler Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke in einem Stuhl auf der Terrasse seines Wohnhauses zusammen, getötet durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe. Ermordet hat ihn der langjährige Rechtsextremist Stephan Ernst, das gilt inzwischen als sicher. Wegen psychischer Beihilfe ist zudem der Neonazi Markus H. angeklagt. Ernst behauptet, gemeinsam mit H. gehandelt zu haben und so sehen es auch die Bundesanwaltschaft und die Familie Lübcke. (…) Stephan Ernst steht auch wegen eines weiteren Tatvorwurfs vor Gericht: Gegen 22 Uhr am 6. Januar 2016 fällt Ahmed I. auf einem Bürgersteig in Kassel zu Boden. Ein Radfahrer hatte ihm von hinten ein Messer vier Zentimeter tief in den Rücken gerammt. Versuchter Mord, so lautet die Anklage gegen Ernst. (…) In dem Plädoyer hatte die Bundesanwaltschaft Ende Dezember vor dem Oberlandesgericht auch ausgeführt, dass die Ermordung Lübckes in der Tradition des von Rechtsextremisten propagierten „führerlosen Widerstands“ stehe. Auf diesem Prinzip beruhte auch der Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds, kurz NSU. Ernst ist deutschen Ermittlungsbehörden schon lange bekannt, aber bisher haben die Sicherheitsbehörden keine besondere Nähe zum NSU festgestellt. Interne Dokumente belegen, dass die persönlichen Verbindungen des Lübcke-Attentäters aus Kassel zu NSU-Netzwerken im nahe gelegenen Thüringen intensiver waren als bisher bekannt. Die Angeklagten wollten sich auf Nachfrage von CORRECTIV nicht äußern. Ein Umfeld mit vielen gemeinsamen Bekannten Allein bis zum Jahr 2009 gab es im polizeilichen Informationssystem POLAS 37 Einträge über Stephan Ernst. Der hessische Verfassungsschutz zählt über 60 Rechtsradikale zum Personenkreis um Ernst und seinen mutmaßlichen Helfer Markus H., wie CORRECTIV aus dem Lübcke-Untersuchungsausschuss in Hessen erfuhr. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz war durch Quellenmeldungen über Stephan Ernst informiert. Insgesamt 13 solcher Meldungen mit Bezug zu Ernst lagen dem Amt vor dem Mord an Lübcke vor. (…) CORRECTIV sichtete dutzende, teils geheime Dokumente und Vernehmungsprotokolle sowie Fotos und Recherchen anderer Medien. Sie zeigen in der Zusammenschau: Ernst und auch H. bewegten sich offenbar näher als bisher angenommen im Umfeld der terroristischen Vereinigung. Das beginnt bei den persönlichen Bekanntschaften von Ernst mit vier Rechtsextremisten, die von der Bundesanwaltschaft als wichtigste Personen in den Ermittlungen zum NSU-Komplex eingestuft wurden. Sie alle stehen auf einer entsprechenden Liste der Bundesanwaltschaft, die CORRECTIV vorliegt und neben dem NSU-Kerntrio insgesamt 35 Personen umfasst, darunter die engsten und teils später verurteilten Unterstützer des Trios. Unter den NSU-Anschlagsorten ist Kassel die einzige Stadt, aus der Personen auf dieser Liste aufgeführt werden. Die Bundestagsabgeordnete Renner schlussfolgert deshalb, dass die Bundesanwaltschaft „möglicherweise ein sehr viel engeres Verhältnis des NSU nach Kassel als in die neonazistischen Szenen in den anderen Tatorten“ vorausgesetzt habe.
Neben den vier Bekannten und Freunden von Ernst gibt es zu weiteren Personen auf der Liste Verbindungen über Veranstaltungen, Organisationen und Kontakte. (…) Brisant ist der Kontakt zu Gärtner auch, weil dessen V-Mann-Führer Andreas Temme war, ehemaliger Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz und am Tatort bei einem der NSU-Morde anwesend. Ernst habe Temme aber nicht gekannt, gab er vor Gericht an. Dem Spiegel gegenüber teilte ein Anwalt von Ernst jedoch mit, dass in Gesprächen zwischen Gärtner und Ernst auch der Name Temme gefallen sei. Gespräche von Gärtner und Stephan Ernst über den Verfassungsschützer Temme sind deshalb so brisant, weil Temme und Gärtner später bei dem NSU-Mord in Kassel 2006 noch eine entscheidende Rolle einnehmen werden. (…) Der führende Neonazi Thorsten Heise ist die Nummer 10 auf der Liste der Bundesanwaltschaft und gehört damit ebenfalls zum Personenkreis mit „besonderer Bedeutung“. Ihm spricht die Zeitung Welt eine „Art Mentor“-Rolle für Stephan Ernst zu und dokumentiert zahlreiche Zusammenkünfte der beiden Neonazis zwischen 2001 und 2011 unter Berufung auf Unterlagen des Verfassungsschutzes. Vor Gericht berichtet Ernst auch wegen einer „Hausverteidigung“ bei Heise zuhause gewesen zu sein. Es sei damals darum gegangen, Heises Anwesen gegen Linke zu verteidigen. (…) Thorsten Heise gilt als entscheidender Führungskader der extremen Rechten in Deutschland. Was wusste er über den NSU und die Morde der Terrorbande, bevor diese öffentlich bekannt wurden? Ein verurteilter NSU-Unterstützer sagte nach seiner Verhaftung 2011 aus, er habe mit Heise bei „zwei, drei“ Treffen über eine mögliche Flucht des NSU-Kerntrios ins Ausland gesprochen und Heise habe gesagt, er hätte da jemandem, bei dem die drei auf einer Farm leben könnten. Auch Tino Brandt, ein ehemaliger V-Mann und Anführer des „Thüringer Heimatschutzes“, in dem auch das NSU-Kerntrio Mitglied war, sprach noch 2007 mit Heise über das Trio. Das geht aus Tonbandaufnahmen hervor, die bei Thorsten Heise sichergestellt wurden. Die Aufnahmen lassen den Verdacht aufkommen, dass Heise zu diesem Zeitpunkt möglicherweise von den Morden des Trios wusste. Heise zweifelt in dem Gespräch jedoch daran, dass die Taten dem Trio zugeordnet werden können. Bis Polizei und Öffentlichkeit erfahren, dass „die drei verschwundenen Jenaer“, über die Heise und Brandt sprechen, für die Morde, Sprengstoffanschläge und Banküberfälle verantwortlich sind, werden noch vier Jahre vergehen, weil fatalerweise genau dieses „zuordnen“, von dem Heise spricht, nicht gelang. Noch 2011 besuchte Ernst eine von Heise organisierte Sonnenwendfeier in Thüringen. Das belegt ein Foto von der Feier das dem Verfassungsschutz vorliegt und auch Thema im Gerichtsprozess war.

via correctiv: Lübcke-Mord: Kontakte zu NSU-Umfeld weitreichender als bisher angenommen