Anhänger der »Querdenken«-Bewegung radikalisieren sich, indem sie sich in allen erdenklichen Lagen zum Opfer erklären. Auch der Tod eines »Querdenken«-Demonstranten wird auf diese Weise instrumentalisiert. Jede Bewegung braucht eine große und attraktive, aber simple Erzählung, der man sich anschließen kann. Das kann ein ideologischer Kern sein, eine emotionale Weltsicht oder eine historische Verkürzung. Die Funktion dieser Idee muss man sich auch als eine Art Filter oder Brille vorstellen, mit der alles Geschehen betrachtet und bewertet wird. Die Bewegung, zu der »Querdenken« geronnen ist, hat die Essenz ihrer Erzählung inzwischen gefunden: Wir sind die Opfer! Es geht dabei nicht mehr nur um die klassische Opferpose, die viele radikale Bewegungen als Instrument verwenden. Sondern um einen umfassenden Kult des Opferseins. Mit allen dazugehörenden Kultelementen wie Märtyrern (»Er hat sich für uns geopfert!«), Dolchstoßlegenden (»Wir wurden von denen verraten, die uns beschützen sollten!«), Endzeit-Verschwörungen (»Die Pandemie ist nur der Anfang!«) und Erlösungsfantasien hinsichtlich des Opferdaseins (»Bald stürzen wir das Merkel-Regime und werden endlich frei und glücklich sein!«).
»Querdenken« ist zum Selbstopferkult geworden. Der ständige Tanz um das eigene Opferdasein ist das wichtigste Ritual dieses Kults. Deshalb dürfen dem Kult auch niemals die Möglichkeiten zur Selbstviktimisierung ausgehen, die Teilnehmenden müssen stets die Möglichkeit haben, das starke, verbindende, antreibende Opfergefühl zu entwickeln. Das funktioniert hauptsächlich über drei verschiedene Mechanismen: Die ständige Suche nach übernehmbaren Opfersituationen: Dieser Ansatz dient der Selbstvergewisserung des Opferdaseins und umfasst die absurde Konstruktion von vermeintlichen historischen Parallelen oder die merkwürdigen Aktionen von »Querdenken« zur Flutkatastrophe. Die absichtliche Herstellung, Provokation und Dokumentation von Situationen, in denen der Kult tatsächlich Opfer ist oder sich so inszenieren kann: Dieser Mechanismus lässt sich auf den Demonstrationen gut beobachten, wo unter dem Deckmantel der Berichterstattung massenaktivierende Bilder hergestellt werden sollen. »Querdenken« als Opfer der Medien, der Politik, der Polizei. Die Umdeutung sämtlichen Geschehens als Angriff auf den Kult, seine Ziele und Werte

via spiegel: Dolchstoßlegende und Märtyrermythen – Der Selbstopferkult der »Querdenker«

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